Kapitel zwei: Der Lehrer wird getötet und
die Reise beginnt
Raven hatte eine ganz andere Atmosphäre als Klanxbüll. Klanxbüll war primitiv-romantisch gewesen. Das rauhe Klima und die karge Unterkunft hatten ein stärkeres Solidaritätsgefühl erzeugt. Raven war ganz anders: Ein kleines Schloß in einem Park mit riesigen Bäumen, auf der einen Seite ein großer Wald, auf der anderen Felder und Fischteiche, daneben ein Bauernhof, alles Teile des alten Gutsbesitzes, in dessen Herrschaftshaus jetzt wir eingezogen waren. Von der Kälte der Nordsee waren wir jetzt in den Sommer der Lüneburger Heide versetzt und wir fühlten uns wie im Paradies - "nach dem Schweren kommt das Leichte", wie es im Koran heißt. Paradiesisch war hier auch die Vegetation: Vielfach säumten mannshohe huflattichartige Kräuter und Farne die Wege, in den Wäldern gab es überall die Hochstände der Jäger und endlich konnte man sich auch setzen und die Szene genießen ohne von Wind und Wetter verscheucht zu werden.
Auf die Konflikte, die wir untereinander hatten, wirkte sich die friedliche Landschaft nicht so besänftigend aus, im Gegenteil. Sogar der Scheich schien nicht mehr so sehr die allein anerkannte Autorität zu sein, ich konnte Parteiungen spüren, ohne daß ich sie genau umschreiben hätte können. Ich hatte zwar gehört, daß man in München jetzt ständig mit der Ankunft von Scheich Ghafar aus Kairo rechnete und da gerade eine Gruppe aus dem Süden angekommen war, wußte ich auch, daß es in Süddeutschland eine Reihe von Leuten gab, die es dem Scheich übelnahmen, daß er sich hier im Norden ein Zentrum hatte einrichten lassen und man kritisierte, daß man das Haus und seinen Betrieb durch Veranstaltungen finanzieren wollte, für die fixe Beträge eingehoben werden sollten; aber ich hatte keine Ahnung wer Scheich Ghafar war, noch begriff ich die vermutlich edlen Motive der Leute, die Scheich Soltan Ali jetzt der Geschäftemacherei bezichtigten. Ich fand die jetzige Lösung sehr vernünftig, wenn sichergestellt wurde, daß auch jemand, der nicht genug Geld hatte, am Veranstaltungen teilnehmen konnte. Man konnte eine Organisation in Deutschland nicht so führen wie im Orient. Hier mußte man akzeptieren, daß kaum jemand abschätzen konnte, was ein geistiger Dienst wie der des Scheichs wert war, denn hier war jeder gewohnt, daß alles den Preis hatte, der den Kosten entsprach, die anfielen und dieser Preis war allgemein akzeptiert. Später, wenn alles einmal lief, konnte man ja wieder übergehen zur Finanzierung durch Spenden. Und das war auch das Ergebnis der Diskussion des Problems.
Im Tagesablauf unterschieden
sich diese letzten Wochen des Sommercamps nicht allzusehr von den ersten. Nur
daß wir jetzt selber kochen mußten und daß der Ramadan vorüber war, daß es also
wieder die üblichen drei Mahlzeiten gab. Schon in Klanxbüll hatte ich zu festlichen
Anlässen Torten gebacken und auch hier half ich oft beim Kochen und Backen.
Einmal, erinnere ich mich, machten wir dreihundert Zwetschkenknödel auf meine
Anregung hin, meistens aber dirigierte Hulda die Küche mit einem unglaublichen
Repertoire von Fantasierezepten, die fast täglich angenehme Überraschungen brachten.
Nach dem offiziellen Ende des Camps blieben einige aus verschiedenen Gründen noch da. Während der ersten Woche kamen auch manche erst, die vorher keine Zeit gehabt hatten oder die spezielle Probleme mit dem Scheich besprechen wollten, dann blieben nur noch die Familie des Scheichs, seine beiden Frauen und die Kinder, Robert und Linda, die Hausverwalter, sowie Hulda und ich. Bis jetzt hatte sich nämlich noch nicht geklärt, was ich nun tun sollte. Der Scheich sprach davon, daß er nach Ägypten fahren würde, um dort für ein Haus, das er gekauft hatte, eine weitere Zahlung zu leisten und bei der Gelegenheit wollte er auch feststellen, welche Möglichkeiten es für mich dort gab. Da der Scheich bald zurück sein mußte, wollte ich so lange hier bleiben. Mahabba schlug mir vor, inzwischen Lektionen des Scheich von Kassetten abzuschreiben und bereits geschriebene Protokolle zu redigieren, nach Themen zu ordnen und druckfertig zu machen. Auch Fatiha, die jüngste Frau des Scheichs, arbeitete daran. Und so schrieben wir einige Stunden jeden Tag, erledigten den Haushalt, unterhielten uns und genossen die Natur.
Aber im Haus
stieg die Spannung von Tag zu Tag. Mindestens zweimal am Tag verschob der Scheich seinen
Abflug nach Ägypten und jetzt, wo er endlich Zeit für sie hatte, begannen seine
zwei Frauen aufeinander eifersüchtig zu werden und jede beschwerte sich, daß er nicht
genügend Zeit für sie habe. Einmal fragte mich Soraja, die Frau mit den Kindern, ob ich auch
zwei Frauen möchte und als ich meinte: "Nein, mir wäre eine halbe genug", sagte sie: "Genauso ist
es mit dem Scheich und damit das nicht so auffällt, hat er zwei."
Die Nervosität des Scheichs wurde immer stärker. Wir hatten den Eindruck, daß die Rivalität zwischen den Frauen der Grund war, denn sie wurde auch immer stärker und wir warteten nur darauf, daß sie sich eines Tages in den Haaren liegen würden. Umso unerklärlicher fanden wir, daß er sich nicht entschließen konnte, abzureisen. Er schlief auch morgens immer länger und die Tage vergingen mit irgendwie künstlich wirkenden geschäftlichen Besprechungen, wo es nach vielen Stunden kein Ergebnis gab, außer daß sein Flug wieder verschoben wurde. Eines Tages machte er mir dann den Vorschlag, ein Auto nach Ägypten zu bringen und dann ging er mit Friedrich, dem Geschäftsführer des Vereins, eines kaufen. Aber der Wagen, den er kaufte, hatte einen Sechszylindermotor und das war steuerlich ungünstig für Ägypten, so wollte er den lieber selber fahren und für Ägypten einen anderen kaufen. Aber dann entschloß er sich plötzlich, mit seinen Frauen und den Kindern in Europa auf Urlaub zu fahren und Ägypten fallen zu lassen. Da könnte ich dann einiges tun für ihn, meinte er.
Alle atmeten auf, als sie tatsächlich ihr Gepäck ins Auto luden. Linda, unvorsichtig ehrlich, wie sie ist, sagte zum Scheich: "Also ich bin jetzt richtig erleichtert, daß ihr alle wegfahrt, denn diese letzten Tage mit deiner Familie waren ja schlimmer wie die Wochen vorher mit den vielen Leuten."
Der Scheich wurde daraufhin böse und sagte diesen Ton wolle er nicht nocheinmal hören und sie habe keinen Grund sich zu beklagen, sie habe ja für seine Kinder nicht zu sorgen gehabt, vielmehr habe Soraja das alles selbst erledigt, sogar hinter ihnen saubergemacht. Aber dann beruhigte er sich wieder und wir wünschten ihm von Herzen einen erholsamen Urlaub. Wir standen am Seiteneingang, als sie wegfuhren, und winkten ihnen nach, bis sie im Wald verschwanden.
Nun waren wir, abgesehen von gelegentlichen Besuchern und Mahabba und Friedrich, die tagsüber oft Korrespondenz und Buchhaltung erledigten, nur vier ständige Bewohner des Hauses. Hulda kochte, Linda sorgte für die Sauberkeit, Robert machte Besorgungen und ich tippte und redigierte Diskussionen mit dem Scheich.
Nur - gleich am Tag der Abfahrt des Scheichs bat mich Robert, mit ihm nach Hamburg zu fahren, um dort mit ihm für das Zentrum einen kleinen gebrauchten Bus zu kaufen. Er hatte bereits die Annoncen durchgesehen und das Angebot auf etwa fünf Adressen eingeengt, die wir aufsuchen sollten. Und Friedrich, der Finanzchef, hatte maximal zweitausend Mark für den Zweck bewilligt.
Bei der ersten Adresse, einem offensichtlich wohlhabenden Haus hoch über der Elbe, öffnete ein junger Hippie-Typ. In der Diele hinter der Haustür lag ein schöner orientalischer Gebetsteppich. Robert sah mich an mit dem Blick "Hast du das gesehen?" Der Hippie erzählte uns nun, er sei mit Freunden erst vor kurzem von einer Reise durch einige arabische Staaten zurückgekommen und jetzt hätten sie keine Verwendung mehr für den Bus. Der Motor sei nicht mehr sehr gut, aber dafür sei im Preis ein zweiter Bus inbegriffen, dessen Motor nur 20.000 Kilometer gefahren worden sei. Der Preis von zwölf hundert Mark schien günstig, aber als wir den Wagen sahen, konnten wir uns nicht entschließen: Die Dachbespannung hing in Fetzen und auch sonst hätte an der Innenausstattung einiges repariert werden müssen. Für Hippies war das ein ideales Fahrzeug, für das Sufi-Zentrum aber nicht. Wir dankten und fuhren zur nächsten Adresse. Da war ein alter Ford. Anscheinend in sehr guter mechanischer Verfassung, aber auch kein Wagen fürs Auge und mit 2.500 Mark etwas über unserem Limit. Schließlich kauften wir einen gut aussehenden VW-Bus von einem Lehrer, der darin mit behinderten Kindern nach Schweden gefahren war, wie er sagte. Wir sahen zwar einiges Polyester und der Motor klang nicht sehr gut, obendrein war es verdächtig, daß er den Motor gewaschen hatte, aber als wir dann bei ihm im Wohnzimmer saßen, beschlossen wir den Handel. Seine orangehaarige Rockerfreundin, die mit ihm etwas gelangweilt schien, unterstützte uns kräftig, bis er von zweitausend auf fünfzehnhundert Mark herunterging. Robert gab ihm tausend und hinterließ seinen Führerschein. Dann fuhren wir los, Robert im Peugeot vor mir her und ich in unserem neuen Bus hinterdrein. Ich stellte das Radio an und genoß die Fahrt.
Plötzlich sehe ich ein rotes Licht leuchten, das Generatorlicht. "Ein rotes Licht bedeutet 'Halt!'", blitzte es durch meinen Kopf, aber gleich darauf dachte ich "schon wieder", denn das war jetzt das dritte Auto, mit dem ich in den letzten drei Tagen fahren hatte müssen, bei dem das Generatorlicht aufleuchtete. Immer hatte ich gebangt, ob die Batterie es aushalten würde bis nach Hause. Aber jetzt war es Tag und der einzige Strom, der verbraucht wurde, war für die Zündung und fürs Radio. Es waren nur noch zwanzig Kilometer, das konnte kein Problem sein. Wir fuhren ständig um die hundertzehn Stundenkilometer, aber auf einmal fuhr Robert mir davon und so tief ich das Gaspedal auch trat, der Wagen fuhr nicht schneller. Erst dachte ich, es gehe bergauf, obwohl es eigentlich nicht so aussah. Ohne daß ich also eine Steigung sehen konnte, verlangsamte sich die Geschwindigkeit auf hundert und als es dann nur noch neunzig waren, schien mir etwas verbrannt zu riechen. In meinem Hirn funkte es noch immer nicht, aber ich gab Robert Zeichen mit der Lichthupe, daß ich stehenbleiben wollte, um nachzusehen. Umso langsamer ich wurde, umso stärker wurde der Brandgeruch. Ich fuhr ganz an den Rand und schaltete den Motor ab. Dicker Qualm kam mir entgegen, als ich den Motordeckel hob. Nun kam auch Robert. Als der Qualm verraucht war, sahen wir, daß der Keilriemen gerissen war. Ich hätte es wissen müssen, als ich das rote Licht sah. Das war doch ein Motor mit Luftkühlung und der Generator war gleichzeitig Ventilator! Nun begann das Öl am Motor zu brennen, ein Glück, daß die den Motor zuvor gewaschen hatten, denn so konnten wir die Reste, die jetzt brannten mit etwas Wasser von den Wasserpfützen am Straßenrand löschen. Ich versuchte dann nocheinmal, zu starten, aber da war keine Kompression mehr und wir mußten das neu gekaufte Auto nach Hause schleppen.
Am nächsten Tag fuhren wir daher nocheinmal los, um nun auch den kaputten Bus mit dem guten Motor von dem Hippie zu kaufen. Wir hatten uns zwar angekündigt, aber es brauchte Stunden bis wir den Typen fanden und er die Papiere. Der Motor sah tatsächlich sehr gut aus, aber der Wagen hatte hier offensichtlich jahrelang unbenützt gestanden. Es gab keine Möglichkeit, den Motor zu starten, und der ganze Bus befand sich in einem äußerst desolaten Zustand. Die Bremsen hatten so viel Luft, daß es mindestens fünfmal Pumpen brauchte, bis sie zu wirken begannen, die Handbremse funktioniert überhaupt nicht. Natürlich gab es keinen Strom für Blinker oder Scheibenwischer, die Scheiben an den Türen fehlten, ebenso der Motorraumdeckel und die Nummernschilder, und die Reifen hatten kaum noch Luft. Robert fuhr wieder den Peugeot, ich den Bus am Abschleppseil.
Zuerst fuhren wir an eine Tankstelle um die Reifen aufzupumpen. Als der Tankwart uns sah, begann er ein Gezeter und erzählte uns, er habe so ein Fahrzeug vor vielen Jahren einmal nur etwa hundert Meter weit geschleppt; dabei habe ihn die Polizei angehalten und er habe so viel Strafe gezahlt, daß er sich dafür ein schöneres Auto hätte kaufen können. In den schwärzesten Farben malte er uns aus, was alles passieren könnte. Dabei wußte er gar nichts vom Zustand der Bremsen. Das war es, was mir im Magen lag. Und natürlich die Polizei, denn wir mußten den Wagen erst durch die ganze Innenstadt von Hamburg schleppen, über die Reeperbahn und dann noch fünfzig Kilometer über Land.
Erstaunlicherweise kamen wir ohne Aufsehen durch die Stadt. Am Stadtrand begann es leicht zu regnen und langsam trübte sich dadurch die Windschutzscheibe, bis sie nach einigen Kilometern ungefähr so durchsichtig war wie Milchglas. Ich konnte gerade noch die Rücklichter des Peugeot erkennen; den Straßenrand mußte ich mehr erahnen, als ich ihn sehen konnte; von kommenden Kreuzungen oder Kurven sah ich natürlich nichts. Dabei fuhr Robert manchmal über achtzig Stundenkilometer und ich mußte ununterbrochen die Bremse pumpen, wenn ich auch nur für eine Sekunde aufhörte, war sie schon weg. Ich war so beschäftigt, daß ich Robert nicht auch noch signalisieren konnte, daß ich stehenbleiben wollte. Erst als wir an einer Kreuzung stehenbleiben mußten, konnte ich ihm rufen. Inzwischen regnete es in Strömen, aber der Dreck an der Windschutzscheibe klebte fest. Es war mir nicht aufgefallen, solange die Scheibe trocken war. Wir fanden ein paar alte Zeitungen und wischten die Schmutzschicht ab. Mit bloß fließendem Wasser vom Regen war die Sicht erträglich gut. Zum Glück kannte Robert die Gegend, sodaß wir alle Hauptstraßen vermeiden konnten und nach einer guten Stunde war die abenteuerlichste Fahrt meines Lebens gut überstanden.
Wir gingen nun
das Werkzeug durch, das vorhanden war, und kauften, was uns fehlte. Und bevor
es dunkel wurde, hatte ich den guten Motor schon herausgenommen. Die feudale Auffahrt zu
unserer Herrschaftsvilla war
zur Autowerkstatt
geworden.
Ein Verzögerung gab es am nächsten Tag, als ich sah, daß auch das Schwungrad am Motor
getauscht werden mußte.
Robert borgte sich das Werkzeug an einer Tankstelle aus und am Abend war der
Wagen fahrbereit. Am nächsten Tag tauschten wir noch die Schiebetür, dann fuhr
Robert nach Hamburg, um den Rest zu bezahlen. Die Leute waren wegen unseres Pechs mit dem Motor nocheinmal mit dem Preis heruntergegangen, sodaß wir nun für
den vorherigen Preis ein sehr gutes Auto hatten. Der Hippie hatte Wort gehalten,
sein Motor war wirklich in hervorragender Verfassung.
Nun konnte ich mich also ganz meiner redaktionellen Arbeit widmen. Der Wunsch nach einer gedruckten Sammlung der wichtigsten Themen aus den Gesprächen mit dem Scheich war vor allem deshalb aufgetaucht, weil ein Großteil der Zeit bei den Gesprächen mit dem Scheich immer wieder von den selben Themen eingenommen wurde, weil fast alle Neuen zuerst einige grundlegende Vorurteile über den Islam abbauen mußten. So könnte man ihnen diese Sammlung in die Hand geben und der Scheich wäre frei, sich gleich den eigentlichen Fragen der Einzelnen zu widmen. In den zwei Wochen bis zu seiner Rückkehr wollte ich die bisher getippten Vorträge in eine druckfertige Form bringen. Ich arbeitete fünf, sechs Stunden am Tag, im Übrigen genoß ich die Landschaft.
Schon in der Woche vor der Abreise des Scheichs hatte ich im Wald zwei Holzfäller kennengelernt, die aus dem teils undurchdringlichen Dickicht des Waldes einen gepflegten Forst machen sollten. Und nun ergab es sich so, daß ich sie bei einer Arbeitspause antraf und ich setzte mich zu ihnen. Sie erzählten mir von ihrer Arbeit und ich ihnen über das Sufi-Haus. Nachdem sie gegessen hatten, warfen sie sich fragende Blicke zu. Schließlich fragte mich einer, ob ich mit ihnen etwas Haschisch rauchen wollte. Ich hatte so etwas geahnt, aber nicht zu hoffen gewagt. Da grub einer mit einem Schraubenzieher ein kegelförmiges Loch in den Waldboden als Pfeifenkopf und mit einem dicken Draht bohrte er von der Seite ein Luftloch. Darauf setzte er einen abgeschnittenen Flaschenhals, der als Ansaugrohr diente. Als alles bereit war, füllte er den Kegel unten mit Tabak und darauf legte er die Mischung. Die Wirkung war kollossal, viel besser als jede Wasserpfeife. Wie beim islamischen Gebet knieten wir am Boden, nur anstatt mit der Stirn den Boden zu berühren, berührten wir mit den Lippen den Flaschenhals und ließen Wolken aromatisierten Rauchs darin aufsteigen und in unsere Lungen sinken. Der Duft des Waldbodens erfrischte jeden Zug und wir kamen in eine Stimmung, in der uns allen gleichzeitig, wie man sagen könnte, der Geist des Waldes erschien aus den Bäumen ringsum, dem weichen grün-braun beschichteten Waldboden, der harzigen Luft, die erfüllt war von den Vibrationen von tausenden Insekten. In den Wipfeln vergnügten sich die Vögel und einer von ihnen nahm direkten Kontakt mit uns auf. Er umkreiste uns und sang uns auf jedem Ast ein neues Lied, zum Schmelzen schön. Gerade daß er sich nicht in unsere Mitte gesetzt hat. Wir hätten mit ihm mitpfeifen müssen, aber davon waren wir Zivilisierten auch high zu weit entfernt. Wir ließen uns einfach verzaubern. Wir brauchten nichts zu reden, alles war klar, wir waren im Paradies, verliebt in den Armen der Geliebten, der Erde, was konnte schöner sein, wo konnte es größere Wunder geben?
Von all den Brüdern und Schwestern der Sufis, die ich in diesem Sommer kennengelernt habe, habe ich nur mit einem diesen Gleichklang der Herzen gespürt wie mit diesen Holzfällern und das war Robert. Von ihm bekam ich in diesen Tagen ein Buch über nordamerikanische Indianer zu lesen, später hat er es mir geschenkt, weil ich mich ganz darin wiedererkannte, "Seven Arrows" von Hyemeyohsts Storm. Einfach natürlich sein zu können, ohne ständig auf der Hut sein zu müssen, nicht aus der Rolle zu fallen, nicht durch unbedachtes Verhalten zu schockieren. Ich konnte mich zwar durch meine langjährige Erfahrung mit Geistlichen während meines Theologiestudiums gut einstellen auf die Tabus derer, die sich ihre Erlösung von der Religion erhofften, aber ich hatte mir durch meinen eigenen Kampf um Freiheit auch einen Widerwillen angeeignet gegen alle die Phrasen; auf jede Form von Dogmatismus und Bigotterie reagierte ich allergisch, anstatt mit Verständnis; daher war ich ständig in Konflikt mit irgendwelchen Leuten.
Die, mit denen ich diese zwei Wochen zu tun hatte, provozierten mich nicht. Auch Hulda gegenüber, konnte ich mich ganz natürlich geben, obwohl sie den Scheich abgöttisch liebte. Sie sprach von ihm immer als von dem "großen Grünen" oder sie nannte ihn "lachender Prophet". Der Scheich verstand es, den Frauen gegenüber zugleich der liebende Mann und der verständnisvolle Vater zu sein, deshalb schwärmten alle für ihn, besonders Hulda, die in einer besonderen Beziehung zu ihm stand, weil sie die Geister sehen konnte, von denen er sprach. Einmal ist sie ganz verrückt geworden, als der Scheich gerade einen Teil eines Gebets aus den täglichen Übungen der Sufis seiner Tarieqa erklärte und zu ihr gewandt die Worte aussprach: "Hamsan, hamsan, lamsan, lamsan - flüsternd, flüsternd, berührend, berührend". Als er zu "lamsan, lamsan - in Kontakt" kam, stieß sie einen Schrei aus und lief weg. Der Scheich schrie ihr nach: "Aber lauf doch nicht weg, du hast es doch hinter dir, ma'munan, ma'munan - gesichert, gesichert. Du bist in Sicherheit. Du brauchst keine Angst mehr haben". Aber es war schon zu spät. Die Geister hatten sie schon ergriffen. Einige gingen sie dann suchen, aber sie lief allen davon. Erst mitten in der Nacht fanden sie sie. Sie war hingefallen und hatte sich den Kopf angeschlagen. Der Scheich nahm sich ihrer an; er vertrieb die bösen Geister und drehte ihr mit einem großen Schraubenschlüssel und einem Tuch den Kopf zusammen. Am nächsten Tag war sie wieder da und vergnügt wie zuvor.
Gegen Ende des Sommercamps hatte sie einen Traum, in dem sie den Scheich im Rollstuhl sah. Und ganz zum Schluß sah sie einen Geist in seinem Nacken hocken. - Und nun plötzlich, drei Wochen später, kam die Nachricht, der Scheich hätte einen Unfall gehabt und liege lebensgefährlich verletzt in einem Krankenhaus in Kaiserslautern. Sein Sohn, der, den er zum Nachfolger ausersehen hatte, sei getötet worden, ein Unbekannter Mitfahrer und Soraja lägen ebenfalls verletzt im Krankenhaus. Außerdem sei dem kleinen Mädchen eine Hand abgetrennt, dann aber wieder angenäht worden. Nur Fatiha wäre unverletzt geblieben und wohne bei Walter in Worms.
Alle waren schockiert. Hulda verschwand in ihrem Zimmer und war erst am nächsten Tag wieder zu sehen. Und ich begann nun erst, die Bedeutung von Meldungen zu verstehen, die seit einigen Tagen auch hier im Haus im Gespräch waren: Ein Scheich aus Ägypten sei in Hamburg angekommen und habe gleich bei seiner Ankunft gegen Scheich Soltan Ali gewettert. In München, so hieß es, habe er den Scheich einen "Teufel" genannt und ein großes Unglück prophezeit. Gerüchte über schwarze Magie kamen in Umlauf. Und wie es schien, bahnte sich eine Spaltung an unter den Anhängern von Scheich Soltan Ali. Anfangs wurden die Meldungen nur von Mustafa kolportiert, der an der Gründung des Sufi-Hauses in Raven mitbeteiligt war, weil er dort einen Teil seiner Traumseminare abhalten wollte, die in verschiedenen deutschen Städten großen Anklang gefunden und Scheich Soltan Ali nicht wenige Anhänger zugeführt hatten.
Dann wurden im Haus Versammlungen abgehalten, auf denen die Forderungen des ägyptischen Scheichs besprochen wurden, nämlich Raven entweder aufzulösen oder, wie bei den Sufis üblich, ausschließlich durch Spenden zu finanzieren. Da ein Dreijahresvertrag bestand und der Vermieter nicht davon Abstand nehmen wollte, zog man auch in Erwägung, das Haus als Therapiezentrum weiterzuführen oder selbständig neue Mieter zu suchen, die in den Vertrag einsteigen würden.
An einem der folgenden Tage hatte Robert etwas in Hamburg zu tun und ich fuhr mit ihm. Als alles erledigt war, wollte Robert mich Jutta vorstellen, jener Frau, von der ich schon so viel gehört hatte, und die von Anfang an eine Gegnerin des Zentrums Raven gewesen war. Ich wußte nicht, daß Scheich Ghafar bei ihr seine Residenz aufgeschlagen hatte. Aber jetzt sah ich ihn dort.
Er saß gleich in dem Raum beim Eingang und eine Reihe von Leuten saßen um ihn herum; einige von ihnen kannte ich. Ein Kassettenrekorder stand vor ihm und nahm alles auf, was er sagte. Er erzählte gerade eine Begebenheit aus den Tagen des Propheten. Ich glaubte erst, er hielte einen Vortrag, dann sah ich, daß er auf Fragen antwortete. Als es mir schließlich auch gelang, eine Frage zu stellen, merkte ich, daß er doch einen Vortrag hielt und dabei so tat, als würde er auf Fragen antworten. Ein wenig später kam Jutta her zu mir und beantwortete anstatt des Scheichs meine Frage: "Laß dich nicht beirren durch diese oder jene", sagte sie. "Jeder hat seinen eigenen Weg."
Abends gab es dann im Haus einer anderen Förderin der Tarieqa ein kleines Dhikr mit etwa fünfundzwanzig Teilnehmern und anschließend so etwas wie eine Party. Ich sprach da mit anderen Ägyptern, die den Scheich begleiteten, und Scheich Ghafar demonstrierte die hierarchische Struktur der Tarieqa, indem er seinen langjährigen Assistenten, der ihn begleitete, als seinen Sklaven bezeichnete und ihm Schläge aufs Hinterhaupt verabreichte.
Wir verabschiedeten uns gegen Mitternacht, denn hier war nichts Neues mehr zu erfahren. Robert stimmte mit mir überein, daß dieser ägyptische Scheich sich ungemein gern reden hörte und daß ihn die Fragen der Leute nicht interessierten. Für uns gab es keinen Zweifel darüber, daß uns Scheich Soltan Ali lieber war als dieses Großmaul, aber die Nachrichten über ihn waren unverändert schlecht. Er lag immer noch im Koma und wer weiß, was aus ihm werden würde, wenn er die Krise überstünde. Huldas Traum konnte eine echte Vision gewesen sein.
Ich erzählte Robert, von jenem nächtlichen Dhikr am Meer in der Nähe von Klanxbüll, von dem ich mit dem Scheich im Auto zurückgefahren war: "Ich bin hinter dem Scheich gesessen und obwohl ich mich nicht leicht fürchte, wenn jemand anderer fährt, hatte ich bei jeder Kurve Angst um mein Leben, weil er so wahnsinnig gefahren ist. Ich habe es ihm auch gesagt. 'Du solltest einmal eine Zeitlang nach Amerika gehen', habe ich gesagt, 'damit du dir eine zivilisierte Fahrweise angewöhnst'. Er hat nur gesagt. 'Ich kenne dieses Auto sehr genau, ich weiß welche Geschwindigkeit es verträgt.' 'Und ich bin ein Automechaniker ', habe ich gesagt, 'und ich weiß, daß man bei einem mechanischen Ding nie weiß, wann es bricht.'"
"Ja, er ist ein richtiger Autonarr", sagte Robert. "Der Gurdieff ist doch auch bei einem Autounfall umgekommen, nicht?"
Am nächsten Tag
schon kam die Nachricht, daß Scheich Soltan Ali gestorben sei. Da es
Donnerstag
war, trafen sich an dem Abend alle
in Hamburg zum Dhikr.
Wir fuhren hin und auch Scheich Ghafar kam. Er sprach darüber, daß alle Gefährten des
Propheten eines
gewaltsamen Todes gestorben sind und daß Scheich Soltan Ali sich große Verdienste erworben habe um den Aufbau
der Ahmedia-Tarieqa in Deutschland, daß er zuletzt aber Fehler gemacht habe, die jetzt korrigiert werden müßten.
Für mich bedeutete der Tod des Scheichs, daß ich mich nun allein auf den Weg machen mußte. Meine Tage hier waren nun gezählt. Ich wollte noch bis zum Begräbnis bleiben, das in der folgenden Woche in Berlin sein sollte, und von dort aus nach Hause fahren. Es war gesagt worden, wir sollten nach dem Tod des Scheichs bis zu seinem Begräbnis besonders die Sure sechsunddreißig des Koran meditieren. Und wir lasen sie gemeinsam. Robert sprach dabei aus, was ich fühlte: "Wer ist es, der da spricht?" sagte er. "Es ist doch der Geist der Erde, die Stimme, die wir selber immer wieder hören, genau was wir letzthin gesprochen haben, als wir das afrikanische Gras geraucht haben." Genau das war es, was auch mich am Koran faszinierte. Und wenn man den Sprecher 'Erdgeist' nannte, konnten es auch die verstehen, die an 'Gott' nicht glauben konnten.
Natürlich besuchte ich auch die Holzfäller noch vor meinem Abschied aus dieser schönen Gegend. Und auch meine Redaktionsarbeit kam zu dem vorgesehenen Abschluß. Natürlich konnte die Kritik an meiner Arbeit nicht ausbleiben; jetzt, nach seinem Tod, war den ergebenen Anhängern des Scheichs leid um jedes überflüssige Wort des Scheichs, das ich herausgestrichen hatte, um den Sinn klarer zu machen. Aber ich hatte mir da nichts vorzuwerfen und was nun weiter mit dem Text geschah, war nicht mehr meine Sache. Wir nahmen eine Kopie davon mit nach Berlin, um den Brüdern und Schwestern dort jetzt etwas zu geben, wo sie es am notwendigsten brauchten.
Das Begräbnis
fand auf dem türkischen Friedhof statt. Als wir ankamen, war die vor der
Bestattung übliche Totenwäsche bereits vorüber und wir erlebten nur mehr das
Gebet und die Beerdigung. Anschließend trafen sich die meisten in der alten Wohnung
des Scheichs. Der Imam des Begräbnisses rezitierte aus dem Koran; dann gab es
eine Diskussion über das weitere Schicksal von Raven, die, wie zu erwarten,
kein Ergebnis brachte. Nach dem Dhikr am Abend in der Wohnung von Ismet fuhren
die Leute von Raven wieder zurück, ich blieb. Ich hatte am nächsten Tag ein
längeres Gespräch mit dem ägyptischen Neffen von Scheich Soltan Ali, der vor hatte, nach Amerika auszuwandern; dann ging ich mit ihm
Ibrahim und Magda besuchen, die ich in Klanxbülll kennengelernt hatte. Auch
ihnen konnte ich als Ergebnis meiner Erfahrungen während des Sommers nur sagen,
daß ich die selbe Botschaft überall sehen konnte und
daß der Koran nur ein Buch war unter vielen, das sie enthielt. Trotzdem wollte
ich nach Ägypten fahren, um zu sehen, ob es da noch mehr gab, als ich bis jetzt
gesehen hatte.
Ibrahim brachte mich in der Nacht zum Bahnhof und am nächsten Morgen war ich in München, wo ich noch einige Tage mit Matthäus verbringen wollte; er hatte mich eingeladen. Bei ihm wohnte nun auch Mohammed Suleiman, den ich in Berlin kennengelernt hatte. Er und noch ein Ibrahim, ein Amerikaner, waren bereits ziemlich fortgeschrittene Schüler von Scheich Nazim aus Zypern. Besonders Mohammed Suleiman war mit seinem Scheich so eng verbunden, daß er, wie er sagte, mit ihm jederzeit in Verbindung treten konnte. Mohammed Suleiman war in England geboren, aber bereits im Säuglingsalter von einer Tante, die in aller Welt Geschäfte betrieb, auf ihre Reisen mitgenommen worden. Er hatte in vielen Ländern die Schule besucht und war es von klein auf gewohnt alle paar Monate eine andere Sprache sprechen und sich neue Freunde suchen zu müssen. So hatte er inzwischen einen guten Überblick über die Strömungen und Verwandtschaften in den Sprachen der Welt und, wenn er gerade nichts anderes zu tun hatte, nahm er ein Wörterbuch irgendeiner Sprache und las darin. Bei Matthäus war er dabei genau auf den Richtigen gestoßen, denn in seiner Bibliothek fanden sich Wörterbücher und Grammatiken von vielen Sprachen, eine Fundgrube selbst für ihn. Natürlich hatte er auch einiges zu erzählen von seinen Reisen. In China, zum Beispiel, hatte er es erlebt, daß ein Zauberer einen riesigen Drachen erscheinen ließ; vieles von dem, was ich bei Madame Blavatsky gelesen hatte, hatte er bereits gesehen. Daß er ein Moslem geworden war, führte er darauf zurück, daß er längere Zeit in Ägypten zur Schule gegangen war und daher sei das für ihn ganz natürlich gekommen.
Ibrahim, sein
Freund, nahm in München eine Arbeit an für die amerikanische Armee; Mohammed
Suleiman blieb als Gast bei Matthäus. Ich fuhr nach wenigen Tagen weiter nach Österreich,
um mich auf meine Fahrt nach Afrika vorzubereiten. Matthäus wollte auch
nach Istanbul fahren,
um Scheich Nazim zu treffen und wir vereinbarten, uns, wenn möglich, dort zu
treffen. Denn Istanbul sollte auch die erste Station meiner Reise sein. Ibrahim schrieb mir eine
Reihe von Adressen in Istanbul auf, bei denen ich den Aufenthaltsort von
Scheich Nazim erfahren konnte.
Inhaltsverzeichnis
0: Vorwort
2: Der Lehrer wird getötet und die Reise beginnt
3: Die Fahrt
4: Bei den Schülern
des Lehrers des Lehrers
5: Die Deutschen
kommen
6: Der Geburtstag
von Sydna el Hussein
7: Der Scheich wird
erwartet
8: Maulana
9: Was nun?
l0: Meine Fragen
11: Die Antwort
Verzeichnis der arabischen Ausdrücke